1. Geschichte der Seelsorgeberichte
Wie in mehreren deutschen, in erster Linie altbayerischen Diözesen waren auch im Erzbistum München und Freising seit dem späten 19. Jahrhundert die so genannten Seelsorgeberichte über Jahrzehnte ein unabdingbares innerkirchliches Informationsmittel (vgl. B. Ziemann: Katholische Kirche und Sozialwissenschaften 1945-1975 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 175), Göttingen 2007, S. 34f.). Erst 1969 wurden diese von der kirchlichen Oberbehörde jährlich von den einzelnen Seelsorgern eingeforderten Berichte mit einem lapidaren Satz am Ende einer Mitteilung im Amtsblatt der Erzdiözese München und Freising ersatzlos gestrichen. Die Berichte bilden dabei eine hochinteressante Quelle, da sie nicht nur flächendeckend über den Zustand der einzelnen Seelsorgestellen informieren, sondern zudem aus dem klerikalen Blickwinkel die Gesellschaft ihrer Zeit beurteilen. Auch erlauben sie dadurch Rückschlüsse auf die klerikale Sichtweise selbst. Daneben geben die Berichte gemeinsam mit weiteren periodischen und fallweise angeforderten Berichten (vgl. Schulberichte, Pastoralkonferenzen, Visitationen) ebenso einen Blick auf den innerkirchlichen Informationsfluss und das innerkirchliche Informationsbedürfnis im 19. und 20. Jahrhundert preis.
Erstmals nachweisbar wurde der Klerus des alten Bistums Freising am 8. Juni 1711 aufgefordert, einen Rechenschaftsbericht über den Stand der Seelsorge vor Ort an die kirchliche Oberbehörde einzusenden (vgl. AEM Generalien, 1318, S. 317). Eine erste allgemeingültige, zusammenfassende "Instruction über die Behandlung der Paschal-Arbeiten" , die genaue Vorgaben für die Erstellung gibt, stammt hingegen erst aus dem Jahr 1846. Ab diesem Zeitpunkt hatte jeder Geistliche jährlich einen Bericht über den religiösen Stand seiner Seelsorgestelle (Pfarrei, etc.) entsprechend einem vorgegebenen Gliederungsschema an die kirchliche Oberbehörde einzusenden. Zusätzlich wurde von den Dekanen ein Generalseelsorgebericht eingefordert, der die Einzelberichte nicht nur ergänzen, sondern auch einschätzen sollte (vgl. F. Saedt: Systematische Sammlung kirchlicher Erlasse der Erzdiözese München-Freising, München 1902, S. 24-44 und S. 36-39). Ende 1955 wurde aus Rücksicht auf die steigenden Verwaltungsaufgaben der Geistlichen die Einsendung der Seelsorgebericht nur mehr alle drei Jahre gefordert (vgl. Amtsblatt 1955, S. 194). Gleichzeitig mit einer Neuorganisation der Seelsorge wurde 1969 fortan auf die Erstellung der Seelsorgeberichte verzichtet (vgl. Amtsblatt 1969, S. 240).
2. Inhalt und Aufbau
Ab 1846 hatte jeder Seelsorgsgeistliche jährlich den religiös-sittlichen Stand seiner Gemeinde zu charakterisieren, sowie die Schulverhältnisse (insbesondere die Zusammenarbeit mit den Lehrkräften) und den Stand der Kirchenmusik zu schildern. Daneben sollte über den baulichen Zustand der Kultusgebäude und den Stand des Kirchenvermögens berichtet werden. Ferner sollten die studierenden Knaben genannt werden sowie die im Sprengel tätigen caritativen Vereine. Die Seelenstandsbeschreibung (status animarum) mit den Zahlen der Kommunikanten, der Beichtenden, der Taufen und Beerdigungen war als ausgefüllter Vordruck dem Seelsorgebericht beizugeben, ebenso Verzeichnisse der getrennt lebenden Eheleute, der in Mischehe Lebenden und der vollzogenen Religionsübertritte.
Die Berichte und Vorlagen waren über die Dekane an das Ordinariat einzusenden. Von den Dekane wurde dabei zusätzlich ein "Dekanalamtlicher oder General-Seelsorg-Bericht" gefordert, der die Seelsorgeberichte nicht nur ergänzen, sondern auch einschätzen sollte, "wie es im Dekanate mit der Religiösität und Moralität der Gemeinden im Allgemeinen stehe". Hierzu war u.a. auch eine knappe Beurteilung des Dekanatsklerus und der Seelsorgestellen zu erstellen. Eine erste Änderung der Vorschrift erfolgte 1910, bedingt durch die Einführung einer einheitlichen kirchlichen Statistik des Deutschen Reiches (vgl. Amtsblatt 1910, S. 59-63). Zu den eingeforderten Unterlagen zählten fortan neben den sog. Zählbögen, die den status animarum ersetzten, und dem Seelsorgebericht auch die Verzeichnisse der Mischehen, Religionsübertritte und Selbstmörder sowie weitere Verzeichnisse (u.a. Predigtverzeichnis, Qualifikations- und Beichtzeugnisse der Priester). Gleichzeitig wurde 1910 das Schema für die Erstellung der Seelsorgeberichte ausführlicher: Nach der einleitenden Charakteristik des religiös-sittlichen Zustands der Gemeinde sollte über etwaige außerordentliche Veranstaltungen (Missionen, Konferenzen) sowie die Mitarbeit des in der Gemeinde befindlichen Klerus und der klösterlichen Niederlassungen berichtet werden. Im Anschluss daran wurde der Stand des Unterrichts und der Schuljugend ebenso wie nun erstmals der Mitgliederstand und das Wirken der religiösen, katholisch-sozialen und caritativen Vereinigungen erfragt, ein Hinweis auf die zu dieser Zeit gewachsene Bedeutung des katholischen Vereinswesens. Als nächstes war der Zustand der Kultusgebäude, der Stand des Kirchenvermögens, der Kirchenmusik und des Kirchenpersonals sowie Stand und Beitragshöhe der kirchlichen Sammelvereine zu berichten. Abschließend war den Geistlichen die Möglichkeit gegeben, Wünsche und Anträge bezüglich der Seelsorge zu äußern. Für den Generalseelsorgebericht des Dekans blieben die bisherigen Prinzipien bestehen. 1949 wurde erneut das Schema, das bei der Erstellung der Seelsorgeberichte angewandt werden sollte, überarbeitet und erweitert: Nach der allgemeinen Charakteristik, dem Überblick über die außerordentlichen Veranstaltungen und die Mitwirkung der Hilfspriester und des sonstigen in der Gemeinde befindlichen Welt- und Ordensklerus, sollte der Stand des Familienlebens und der christlichen Erziehung thematisiert werden; eine Statistik der Trauungen und Geburten im Berichtsjahr (mit Vergleichszahlen 1890, 1913, Vorjahr) war zur Ergänzung gefordert. Anschließend war gewünscht, der religiösen Haltung der Jugend (zwischen 14 und 18, bzw. 18 und 25 Jahre) sowie der Jugendarbeit im Allgemeinen einen eigenen Punkt zu widmen, ehe (wie gehabt) nach dem religiös-sittlichen Stand der Schule gefragt wurde. Ähnlich dem alten Schema sollte dann die Tätigkeit der religiösen, der sozialen und der Sammelvereine benannt werden. Neu hingegen war nun ein Bericht über das Laienapostolat im Pfarr- und Pfarrcaritasausschuss, was auf die Anfänge dieser Form der aktiven Beteiligung von Laien im kirchlichen Leben hinweist. Eine Übersicht über den Stand der Kultusgebäude, des Kirchenvermögens und der Kirchenmusik schloss sich an. Dabei sollte auch das Verhalten des Kirchenpersonals und die Verbreitung religiösen Schrifttums (etwa der Diözesankirchenzeitung) in der Gemeinde beachtet werden. Etwaige Wünsche und Anträge sowie Angaben, welche Glaubens- und Sittenlehren in den Predigten des Berichtszeitraums behandelt wurden, sollten den Bericht beschließen (vgl. Amtsblatt 1949, S. 5ff.). Die Seelsorgeberichte waren dabei für das Ordinariat nach eigener Aussage "ein wesentlicher Behelf [...] für die Beurteilung des kirchlichen Lebens der Diözese und eine Hauptunterlage [...] für ihre hirtenamtlichen Maßnahmen" (vgl. Amtsblatt 1910, S. 62) und wurden deshalb auch "als die wichtigste der angeordneten Vorlagen betrachtet" (vgl. Amtsblatt 1949, S. 5 ).Trotz aller reglementierenden Vorgaben zur Erstellung der Berichte von Seiten des Ordinariats hätten die Berichte selbst jedoch kaum unterschiedlicher ausfallen können. Neben ausführlichen, teilweise weit über das Schema hinausführenden Darstellungen finden sich auch äußerst knappe, manchmal nicht einmal die wenigen formalen Anforderungen erfüllende Berichte. Inhaltlich reicht die Bandbreite von kritischen bis hin zu selbstkritischen aber auch beschönigenden Beschreibungen. Im Ordinariat war man sich über die Problematik des Einzelberichts, der sehr stark von den Verhältnissen vor Ort und der Person des Geistlichen abhängig war, im Klaren: Aussagekraft gewannen die Ausführungen für die kirchliche Oberbehörde erst in ihrer Gesamtheit, denn das vorgegebene einheitliche Schema erlaubte die vergleichende Auswertung und Bewertung der Berichte durch die Referenten im Ordinariat. Zudem wurde als Korrektiv der Generalbericht des Dekans angesehen und dessen Bedeutung 1949 nochmals eingeschärft (vgl. Amtsblatt 1949, S. 7).
Die kirchliche Statistik, die aus den Anlagen zu den Seelsorgeberichten für das gesamte Deutsche Reich erstellt wurde, war für das Verwaltungshandeln von Interesse, da sich seelsorgliche Konzepte an der messbaren Religiosität orientierten. Zudem war es seit dem 19. Jahrhundert aber auch Absicht, mit den Zahlen die Überlegenheit des Katholizismus gegenüber den anderen Konfessionen zu belegen, speziell durch die registrierten Übertritte zur katholischen Kirche. Die erhobenen Zahlen, etwa beim Kirchenbesuch, beruhten allerdings teilweise nur auf Schätzungen bzw. kaum differenzierten Zählungen. Zudem konnte ein Geistlicher, um keine negativen Folgen aufgrund schwacher Zahlen befürchten zu müssen, durchaus gewillt sein, die Angaben nach oben zu korrigieren. So lange die Kirchenbindung, zumal in geschlossen katholischen Gebieten, hoch war und die Zahl der Sakramentenspendungen entsprechend auf hohem Niveau verharrte, saß man zunächst in der "Zufriedenheitsfalle", zumal als nach der Zeit des Dritten Reiches aufgrund der steigenden Zahlen ein religiöser Frühling gesehen wurde. Als jedoch durch den gesellschaftlichen Wandel seit den 1950er Jahren die Kirchenbindung spürbar abnahm, lösten die nun sinkenden Zahlen eine regelrechte Sinnkrise aus, wie sie auch dem Tenor der Seelsorgeberichte zu entnehmen ist. Die statistischen Daten wurden hingegen kaum hinterfragt, obwohl man durchaus von den Unwägbarkeiten im Zahlenmaterial wusste. Die auf reine Äußerlichkeiten abgestellten Statistiken und Berichte konnten den inneren Wandel nicht erfassen, sondern nur in Zahlen belegen - zumal durch das vorgegebene Schema oder gar Formular die Ergebnisse allein durch die Fragestellungen meist schon präjudiziert waren (vgl. Ziemann: Katholische Kirche, S. 27-75; M. Fellner: Katholische Kirche in Bayern 1945-1960. Religion, Gesellschaft und Modernisierung (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, B 111), Paderborn u.a. 200)8.
Dennoch wurden die bisherigen Informationsmittel unverändert beibehalten. Eine erste Änderung trat erst 1954 mit der Gründung eines eigenen Seelsorgeamtes ein, das dem Ordinariat nachgeordnet war und in dem alle bisher von verschiedenen Referenten betreuten Einzelthemen gebündelt wurden. Wenngleich seine Errichtung bereits seit den späten 1930er Jahren zur Diskussion stand und auch durchaus die Vorteile gesehen wurden, konnte man sich lange Zeit nicht dazu durchringen, Fragen der Seelsorge auszulagern und Kompetenzen abzutreten. Während unter Seelsorge bis dato oftmals nur die ausreichende personelle Ausstattung der Seelsorgestellen gesehen wurde, damit die Gläubigen zum Empfang der Sakramente kommen konnten, begann man nun auch neue Methoden einzuführen. Neue Gottesdienstformen (nicht zuletzt in deutscher Sprache) wurden getestet, Laien wurden zur aktiven Mitarbeit im Rahmen des Laienapostolats aufgefordert, um durch ihr Beispiel im privaten wie beruflichen Umfeld für die Kirche zu werben. Daneben kam es zu einer Verwissenschaftlichung der Seelsorgearbeit durch die Einbeziehung sozialwissenschaftlicher Fragestellungen.
Erst das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) brachte einen vollständigen Umbruch. Durch die hier vollzogene Öffnung der Kirche hin zur Welt, in deren Folge sich die Kirche künftig als Teil der Gesellschaft und nicht mehr in Abgrenzung zu ihr sah, wurde der Weg frei für neue seelsorgliche Konzepte, die auf Zielgruppen abgestimmt waren (vgl. Ziemann: Katholische Kirche, S. 131-314). Gleichzeitig wurden dadurch aber die bisherigen Informationsmittel weitgehend überflüssig, da sie zu wenig den tatsächlichen Stand und Bedarf in den einzelnen Seelsorgssprengeln preisgaben, durch die bestenfalls jährliche Berichterstattung zu träge waren und dem Ordinariat eine rein reagierende Rolle zuwiesen. Auch waren die Berichte auf die nach altem Ideal nach Pfarreien organisierte Seelsorge orientiert. Nachdem sich die Lebenswelten jedoch zunehmend von der Einheit von Wohn- und Arbeitsort oder Kirche und Freizeitgestaltung entfernten, entstand gleichberechtigt neben der Pfarrseelsorge der große Bereich der kategorialen Seelsorge, der sich gezielt an bestimmte Gruppen richtete (vgl. auch M. Fellner, Katholische Großstadtseelsorge, in: Historisches Lexikon Bayerns, http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/artikel/artikel_44724 (7.8.2013)).
Mit Gründung des Seelsorgeamtes 1954 und endgültig mit einer Neuorganisation der Bistumsverwaltung ab 1963, in deren Gefolge zahlreiche neue Ämter entstanden, aber auch verstärkt Laien in die Verwaltungsarbeit einbezogen wurden, konnte die kirchliche Oberbehörde in der Seelsorgearbeit in die Offensive gehen und war auf die Berichte der Geistlichen immer weniger angewiesen. Entsprechend wandelte sich das Anforderungsprofil an die Berichte nochmals deutlich. Stand bisher die Information der oberhirtlichen Stelle an erster Stelle, sollte der Seelsorgebericht 1967 zunächst die verantwortlichen Geistlichen (und Laien) veranlassen, die Lage in ihrem Seelsorgebezirk neu zu überdenken und erst an zweiter Stelle "den Bischof und seine Mitarbeiter im Erzbischöflichen Ordinariat darüber informieren" (vgl. Amtsblatt 1967, S. 138).
Denn unter dem Einfluß des Zweiten Vatikanischen Konzils wurde 1967 "gegenüber der bisherigen Form des Seelsorgeberichtes [...] eine neue Form für den Bericht erstellt" (vgl. Amtsblatt 1967, S. 34). Nach einer einleitend geforderten allgemeinen Darstellung der religiösen, sozialen, soziologischen und politischen Struktur der Kirchengemeinde wurde im Folgenden die Dogmatische Konstitution über die Kirche, Nr. 26 ("Lumen gentium") gestellt, die die neuen Schwerpunkte der Seelsorge umreißt. Sodann sollten diese jeweils mit einem Zitat aus dem Konzilsdekret näher bestimmten Schwerpunkte (Amt und Aufgabe des Priesters, Feier der Eucharistie, Aspekte der christlichen Gemeinschaft, Laienapostolat) anhand der begleitenden Fragen auf ihre Verwirklichung in den Gemeinden hin untersucht werden. Die nun gestellten Anforderungen (vgl. Amtsblatt 1967, S. 138-148) an die Berichte sind dabei kaum mehr mit den bisher gültigen vergleichbar. Sollte der Priester bis dato vor allem die äußere, statistische erfassbare Wahrnehmung berichten, wurde nun vom Ordinariat stärker Wert auf das religiöse Leben der Kirchengemeinde gelegt. Wurden etwa nach altem Schema die Kommunion- und Beichtzahlen als Maßstab der Akzeptanz der Kirche in der Gesellschaft genommen, waren nach neuem Schema keine Zahlen mehr gefordert, vielmehr eine Einschätzung der Haltung zu Glauben und Kirche in der Gemeinde durch den Geistlichen. Gleichzeitig erforderte das neue Berichtsschema beim einzelnen Geistlichen auch durchaus Mut zur Selbstkritik, denn wurde bisher nur die Frage nach der Anzahl der Seminaristen gestellt, mußte sich der Geistliche nun fragen, welche Anstrengungen er in der Berichtszeit unternommen hat, um geistliche Berufe zu wecken und zu fördern. Einzig an den Generalbericht waren keine neuen Anforderungen gestellt worden. Trotz dieser Anstrengungen, die einer regelrechten Verjüngungskur der Seelsorgeberichte gleichkamen, wurden die Berichte nach neuem Schema nur noch ein einziges Mal eingefordert. Die starke Bürokratisierung und Neustrukturierung der Verwaltung versetzte das Ordinariat nach eigener Einschätzung künftig in die Lage, selbst konzeptionell in der Seelsorge tätig zu werden und hierzu auf die Einschätzungen des Klerus verzichten zu können (vgl. Amtsblatt 1969, 240). |